Das Entwicklungstrauma ist das häufigste und am weitesten verbreitete Trauma. Es bleibt fast immer unentdeckt und unbehandelt, weil die allermeisten Menschen weder wissen noch ahnen, dass sie davon betroffen sind. Problematiken, „Charakterzüge“ und „Macken“, die tatsächlich auf Entwicklungstraumata zurückzuführen sind, werden häufig irgendwelchen „Persönlichkeitstypen“ zugeschrieben.

Entwicklungstraumata betreffen viele Menschen, die von sich selbst glauben, nie „etwas Schlimmes“ erlebt zu haben. Diese Art Trauma geht auf Ereignisse zurück, die dazu geführt haben, dass sich das Nervensystem des Betroffenen nicht so entwickeln konnte, wie es sich ohne das Ereignis entwickelt hätte. Bei den „Ereignissen“ handelt es sich entweder um gute Dinge, die nicht geschehen sind, als sie hätten geschehen sollen und/oder schlechte Dinge, die geschehen sind, obwohl sie nicht hätten geschehen sollen. Gute Dinge, die nicht geschehen sind, können dieselben negativen Auswirkungen haben wie schlechte Dinge, die geschehen sind.

Entwicklungstrauma beeinträchtigt Reifung des Nervensystems

Wenn schlechte Dinge, die geschehen und gute Dinge, die nicht geschehen, dazu führen, dass ein Nervensystem nicht zu voller Reife gelangt, liegt ein Entwicklungstrauma vor. Der Betroffene läuft dann auch im Erwachsenenalter noch mit einem Nervensystem herum, das seine Fähigkeiten und Kapazitäten zu autonomer Selbstregulation nicht voll ausbildet hat. Dadurch ist der Betroffene in seiner „Antwortfähigkeit“ bestimmte Reize und Situationen betreffend einschränkt – in der Regel ohne dass ihm das bewusst ist.

Im Leben zeigt sich das außerordentlich facettenreich. „Mildere“ Folgen sind Problematiken wie Kopfschmerz, Beziehungs-, Verdauungs- oder Schlafprobleme, Erschöpfung, Panikattacken, Angstzustände, „Streitsucht“, „Launenhaftigkeit“, Zerstreutheit, Vergesslichkeit, „Faulheit“, Hyperaktivität, fehlende Motivation, Überforderung und und und. Zu den „schlimmeren“ Folgen zählen Depression, Burnout, Süchte und Abhängigkeiten, langfristig auch Erkrankungen wie Krebs, Multiple Sklerose, Diabetes, Schilddrüsen- und Herzerkrankungen.  

Gründe für Entwicklungstrauma

Wo Menschen ohne Entwicklungstrauma Herausforderungen flexibel, optimistisch, vertrauensvoll und mutig „anpacken“, Stress gut verarbeiten können (Stichwort Resilienz), können das Menschen, die ein Entwicklungstrauma haben, nicht in gleicher Weise, eben weil ihr Nervensystem die Fähigkeiten und Kapazitäten, die dafür notwendig sind, nur unzureichend herausbilden konnte. Bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger.

Entwicklungstraumata können insbesondere resultieren aus:

  • Stress der Mutter in der Schwangerschaft
  • schwierige Geburt
  • zu frühe Geburt
  • Belastung / Erkrankung der Mutter
  • Erziehungsmethoden – z.B. „schlafen lernen“, „stiller Stuhl“ etc.
  • Gewalterfahrung, Missbrauch
  • medizinische Behandlungen, Operationen
  • unsicheres Umfeld (z.B. schwierige Familienverhältnisse, psychische Probleme der Bezugspersonen, eigenes unbewältigtes Trauma der Bezugspersonen u.ä.)
  • Trennung/en von der Mutter, bzw. der Hauptbezugsperson

Die Liste ist nicht abschließend. Wie beim Schocktrauma spielt hier der Aspekt des „wann ist etwas schlimm genug, um ein Entwicklungstrauma zu begründen?“ eine Rolle. Objektiv lässt sich diese Frage nicht beantworten – allein ausschlaggebend ist das individuelle Empfinden und Erleben des Betroffenen zum Zeitpunkt des Geschehens. Die Neurozeption spielt hier eine entscheidende Rolle.

Die Sache mit der „glücklichen Kindheit“

Je jünger wir sind, desto gravierender wirken sich Situationen aus, die wir als belastend wahrnehmen (siehe dazu auch Plötzlicher Kindstod: Woran niemand denkt). Der Mensch ist zu Beginn seines Lebens derart hilflos und „unfertig“, dass jede „Unannehmlichkeit“ geeignet sein kann, das Überleben neurozeptiv infrage zu stellen. Ganz egal, wie gering und wie unbedeutend die Sache aus Erwachsenen-Perspektive erscheinen mag. Ein Kind ist ein „somatisches Wesen“, das – salopp ausgedrückt – aus Fühlen besteht und sein Fühlen weder kontrollieren, noch regulieren, noch erklären oder bewerten kann. Es ist ihm ausgeliefert und zugleich in einer absoluten Weise hilflos. Das führt dazu, dass jede Erfahrung von Hilflosigkeit den Organismus eines Kindes in einen Überlebensmodus versetzen kann. Wir alle haben in diesem Sinne prägende Erfahrungen „gesammelt“.

„Happy Childhood Challenge“

Sämtliche „Schwierigkeiten“, denen ein Kind ausgesetzt ist, können zudem Mikro-Traumata begründen. In Bezug auf Mikro-Traumata ist es die Summe oder Menge vorhandener Belastungen, die das Trauma hervorrufen. Von Schulstress über Streitereien mit Freunden, Mobbing, Scheidung der Eltern oder Umzug bis hin zu Leistungsdruck, Verantwortungsübernahme für Geschwister oder die Befindlichkeiten und Erwartungen der Eltern. Viele Menschen neigen dabei dazu, Erfahrungen aus Kindheit und Jugend nachträglich zu relativieren oder herunterzuspielen. Sie sind überzeugt, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben – meist, weil sie sich an glückliche Momente erinnern. Glückliche Momente machen aber weder eine glückliche Kindheit, noch ein glückliches Leben. Bei einer „Happy Childhood Challenge“, wie es der kanadische Arzt Dr. Gabor Maté nennt, genügen oft wenige Fragen, um offenbar zu machen, dass „glückliche Momente“ hinter allen Schutzschilden und Abwehrsystemen mit „glücklicher Kindheit“ weniger zu tun haben als es den Anschein erweckt. Insbesondere dann, wenn die glücklichen Momente nicht ausgereicht haben, um sich eine belastbare autonome Selbstregulationsfähigkeit anzueignen.

Entwicklungstrauma und neurosensorisches Training

Da unser Nervensystem lebenslang veränderbar ist, können wir viel tun, um auch in späteren Jahren unsere autonome Selbstregulationsfähigkeit zu fördern und die Auswirkungen von Entwicklungstrauma, Mikro-Trauma und auch Schocktrauma abzumildern. Das gilt auch und gerade dann, wenn wir nicht mehr herausfinden können, was einst konkret geschehen ist. Tatsächlich ist es nicht erforderlich, in der Vergangenheit zu stochern. Mit neurosensorischem Training lässt sich mit dem arbeiten, was sich jetzt & hier zeigt. Neurosensorisches Training bietet sich daher sehr für den eigenverantwortlichen Umgang mit Trauma an. Auch und gerade, wenn sich Betroffene „an nichts erinnern“. Ihr Körper erinnert sich – und das genügt.

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