Alle reden von „Achtsamkeit“ – aber was ist das eigentlich wirklich? Und worin unterscheidet sich Achtsamkeit von Gewahrsein?

Das verrät das Wort „achtsam“ tatsächlich ganz unmittelbar. Es endet auf die Nachsilbe -sam, die etymologisch eine überaus interessante Wirkung entfaltet: Sie drückt aus, dass mit dem, was ein -sam-Wort beschreibt, etwas gemacht werden kann. Die Worte „ratsam“, „biegsam“ oder auch „duldsam“ verdeutlichen das sehr anschaulich – was rat-sam ist, kann geraten werden, was bieg-sam ist, kann gebogen werden, was duld-sam ist, kann duldend gemacht werden. Es kann sehr aufschlussreich sein, Wörter nach ihren ureigenen, wortwörtlichen Bedeutungen zu durchleuchten, denn viele Wörter scheinen „wir“ im Laufe der Zeit mit abweichenden bis gegenteiligen Bedeutungen aufgeladen zu haben. Bisweilen sagen wir gar nicht wirklich, was wir sagen, denken Sie nur an Worte wie ent-fremden oder ver-lieben.

Achtsamkeit vs. Unachtsamkeit

Das gilt auch für das berühmte „achtsam“ bzw. die „Achtsamkeit“, die seit ein paar Jahren in aller Munde ist und dabei schon fast überstrapaziert wird. Mit dem, was als „achtsam“ bezeichnet wird, kann aber auch nur etwas gemacht werden: Was ‚achtsam‘ ist, kann geachtet oder beachtet werden.

Geachtet oder beachtet werden zu können, ist wundervoll – und doch mit allerlei Schwierigkeiten verbunden: Was mache ich denn genau, wenn ich jemanden achte oder beachte? Was tue ich konkret, wenn ich mich achte oder beachte? Und was tue ich, wenn jemand nicht achtsam ist? Wenn ich es nicht bin? 

Achtsamkeit will verdient sein – Gewahrsein ist

Vielleicht spüren auch Sie so einen Anflug von „mit jemandem, der nicht achtsam ist, stimmt etwas nicht“. Und ja, genauso ist es – denn jemand, der nicht achtsam ist, kann weder beachtet noch geachtet werden. Anstrengung ist also angesagt. Bemühen. Achtung und Beachtung wollen verdient werden. 

Genau da liegt für mich der Hase im Achtsamkeits-Pfeffer. Denn wenn wir uns um etwas bemühen müssen, agieren wir aus einem wie auch immer gearteten Mangel heraus. Das Achtsamkeits-Fass ist deshalb ein Fass ohne Boden – weil „immer noch was geht“. Wir könnten immer. noch. achtsamer sein, immer. noch. mehr. Beachtung finden. Und andere auch. Und jeder vor jedem.

Eine Frage der Wahrnehmung

Mit der Achtsamkeit verhält es sich wie mit so einem Laufteller, den man kleinen Nagern anstelle eines Laufrades in den Käfig stellen kann: Die Tierchen laufen anders als im Rad, treten aber immer noch auf der Stelle.

Die Dinge werden sehr einfach, wenn man anerkennt, dass es völlig gleichgültig ist, ob jemand oder man selber achtsam ist oder ist. Wer jemandem oder sich selbst als unachtsam oder nicht achtsam erscheint, hat es mit nichts Geringerem als Eigenwahrnehmung Fremdwahrnehmung zu tun – mit Urteilen und Bewertungen also, mit Glaubenssystemen und Ide(e)ologie (Idee + Logos = Wissen in Bezug auf eine „Idee“). Wahrnehmung ist nicht die Wahrheit, nur das, was jemand oder man selbst für die Wahrheit nimmt. Wer oder wann jemand oder wir selbst achtsam sind oder nicht, ist eine Frage von Bewertung. Und Bewertung hat nichts mit einem Seins-Zustand zu tun.

Vom Bemühen zum Seins-Zustand

Im Gegensatz zu „Achtsamkeit“ ist Gewahrsein ein Seins-Zustand. Ein von „Achtsamkeit“ zudem gänzlich unabhängiger. Man kann sich aller Dinge gewahr sein, auch dann, wenn man nicht achtsam bzw. unachtsam ist. Es ist dieses Gewahrsein, das den Mutterboden des eigenen Wachstums nährt und bildet. 

In einem anderen Artikel über Gewahrsein und Achtsamkeit habe ich geschrieben:

Das Wort „Gewahrsein“ wird ins Englische übersetzt mit „awareness“, wobei der „awareness“ im Wörterbuch „Bewusstsein“ oder „Bewusstheit“ zugeordnet wird. Gewahrsein ist aber weniger als Bewusstsein oder Bewusstheit. Man kann gewahr sein, auch wenn man nicht oder nicht ganz bewusst ist. Gewahrsein befindet sich somit zwischen Wahrnehmung und Bewusstheit: man weiß, dass etwas nur Wahrnehmung ist, ist sich aber noch nicht bewusst über das, was sich hinter der Wahrnehmung verbirgt.

Sie finden diesen Artikel auf meiner Website speziell für das neurosensorische Training, ich habe ihn am Ende dieses Beitrags verlinkt. Sich auf dem Laufteller der Achtsamkeits-Bemühungen dessen gewahr zu werden, was man da tut, kann enormen Einfluss auf unsere interne und externe Kommunikation entfalten. Es entbindet zugleich von der bisweilen tief empfundenen ‚Schuld‘, nicht achtsam genug zu sein, insbesondere nicht achtsam genug zu kommunizieren und deshalb („verdientermaßen“) nicht zu erreichen, was man erreichen möchte.

Gewahrsein ist der Schlüssel

Und ich möchte hinzufügen: der siamesische Zwilling von Kommunikation. Die Vorsilbe ge- kommt aus dem Germanischen und ist von ihrer Bedeutung her verwandt mit der Bedeutung des lateinischen „kon“ oder „com“, wie in „Kontakt“, „Communitiy“ oder auch „Kommunikation“. Kon- oder Com- bedeutet neben, bei oder mit. Ge- geht auf einen ähnlichen Ursprung zurück, der sich aus Zusammensein, Zusammengehörigkeit und Vereinigung ableitet. Daraus ergibt sich für Gewahrsein:

mit dem sein, was wahr ist
eins sein mit dem, was wahr ist.

Das geht ein ganzes Stück über (bloße) Achtsamkeit hinaus – und entfaltet mittelbar nicht zu unterschätzende Wirkungen in Bezug auf die Dynamik unserer autonomen Reaktionen, auch und gerade im Zusammenhang mit Kommunikation. Sowohl der mit uns selbst als auch der der mit anderen. Mehr zum Thema lesen Sie unter Es geht nicht um Achtsamkeit.

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