Alle reden von Beziehung. Von Beziehungsqualität und Beziehungsarbeit. Von Rezepten für glückliche Beziehungen, der Kunst, Beziehungen zu führen und der Fähigkeit, Beziehungen einzugehen. Viele reden auch von Verbindung. „Naturverbindung“ beispielsweise ist ein verbreitetes Schlagwort. Und alle wollen in Verbindung sein. Miteinander, mit sich selbst, mit Tieren, mit Göttern und Geistern, den Seelen der Verstorbenen, Engeln … . Zugleich scheint es nie zuvor mehr „Beziehungsprobleme“ und „toxische Verbindungen“ gegeben zu haben.

Darüber habe ich lange nachgedacht. Bis mir ein verrückter Gedanke kam: Was, wenn das, was wir mit den Worten „Beziehung“ und „Verbindung“ meinen, gar nicht das ist, was diese Worte beschreiben? Aus meiner Sicht beschreiben sie tatsächlich etwas ganz anderes. Und witzigerweise (oder tragischerweise) sind Be:ziehung und Ver:bindung zwei Dinge, die gar nicht funktionieren können.

Teil 1:
Be:ziehung – was ist das eigentlich?

Fangen wir mit dem Wort „Beziehung“ an. Es wird ungeheuer interessant, wenn man es seziert. „Beziehung“ oder „beziehen“ setzt sich zusammen aus der Vorsilbe „be“ und dem Substantiv „Ziehung“ – alternativ dem Verb „ziehen“. Dabei drückt „be-“ aus, dass etwas auf etwas anderes drauf- oder an etwas anderes an-geheftet (-geklebt, -geschlossen …) wird, darauf aufgezogen wird. In Beziehung steckt entsprechend be-ziehen, gewissermaßen „ein eines auf ein anderes drauf-ziehen“ oder „ein eines an ein anderes anheften“. Entsprechend bezieht man sich in einer Be-Ziehung aufeinander – ich beziehe mich auf Dich, und Du beziehst Dich auf mich.

Wer sich ein bisschen mit Psychologie auskennt, denkt jetzt an das Phänomen der Projektion. Wer „Opfer“ (s)einer Projektion wird, sieht in einem Gegenüber nicht das Gegenüber wie es tatsächlich ist. Er sieht sich selbst im Gegenüber wie in einem Spiegel. Was er am Gegenüber kritisiert, kritisiert er an sich selbst, was er am Gegenüber wertschätzt, schätzt er an sich selbst. „Wer’s sagt, ist es selber“, haben wir als Kinder getönt, wenn uns einer „doof“ genannt hat. Wer „Opfer“ (s)einer Projektion wird, projiziert auch seine Wahrnehmungen, Interpretationen, Auffassungen, Werte, Wünsche, Erwartungen und Bedürfnisse aufs Gegenüber (oder bemerkt, dass ein Gegenüber das alles auf ihn projiziert). Genau das liegt Be:ziehungen zugrunde: Projektion.

Wen sehen Sie, wenn Sie sich auf einen anderen beziehen?

Wenn Sie (zugegeben, der Vergleich ist profan, verdeutlicht aber, was ich meine) eine Matratze mit einem Laken beziehen – sehen Sie dann das Laken oder die Matratze? Genau: Sie sehen das Laken. Im besten Fall wissen Sie, dass sich darunter eine Matratze befindet (und dass die ganz anders aussehen und beschaffen sein kann, als das Laken es möglicherweise vermuten lässt). Das Laken deckt die Matratze ab, macht sie unsichtbar. Es ist das Laken, das wir hübsch oder hässlich finden, das macht, dass wir bereit sind, uns auf die Matratze draufzulegen (oder nicht). Ist das Laken sauber, legen wir uns vielleicht auch auf eine fleckige Matratze (sofern wir überprüfen, ob die Matratze Flecken hat). Wenn das Laken fleckig ist, meiden wir aber sehr wahrscheinlich selbst die sauberste Matratze.

Man kann den Matratzen-Vergleich noch weiter spinnen, aber belassen wir es an dieser Stelle dabei. In Sachen Projektion und Be:ziehung ist das Laken das, was wir von uns auf das Gegenüber projizieren – auf das Gegenüber draufziehen (oder/und das Gegenüber, der „Beziehungspartner“, von sich auf uns).

Genau das passiert in Beziehungen. In einer Be-Ziehung ist etwas, das A von sich dem B überstülpt, das, was B aus Sicht des A für A sein soll. Es ist das, was A von B haben will, das, was sich für A durch B erfüllen soll. A bezieht sich (seine Konzepte, seine Erwartungen, seine Wünsche, seine Interpretationen etc.) auf B. Entsprechend ist etwas, was B dem A von sich überstülpt, in einer Be-Ziehung das, was A für B sein soll. Das, was B von A haben will, bzw. das, was sich für B durch A erfüllen soll.

Beziehungsarbeit ist der Aufwand, den wir betreiben, um …

  1. vom Gegenüber zu bekommen, was sich durch dieses Gegenüber für uns erfüllen soll und
  2. was wir selber leisten – „in die Beziehung einbringen“ – damit das Gegenüber von der Be:ziehung auch was hat – und die nicht auflöst. Denn wenn das Gegenüber das tut, kann sich nicht mehr erfüllen, was wir uns (!) vom Gegenüber versprechen (und ja, ich schreibe mit Absicht „was WIR UNS versprechen“).

Am Grad der Erfüllung messen wir die Beziehungsqualität. Geben und Nehmen innerhalb einer Beziehung sollen ausgeglichen sein, heißt es. Ist das nicht der Fall, erfüllt uns die Beziehung nicht. 

Beziehungsarbeit: hör bloß auf und fang endlich an

Von der Sache mit der Projektion kommt die superschlaue Binsenweisheit, dass man in anderen immer nur sich selbst sieht, dass die einen „spiegeln“.

In einer Beziehung ist das beiden Beteiligten meist nicht oder nicht auf ganzer Linie bewusst. Anstatt uns mit uns selbst zu beschäftigen, beschäftigen wir uns deshalb mit der Be:ziehung. Wir fragen uns, warum die nicht oder nicht mehr funktioniert. Warum die so schwierig ist. Was mit dem anderen nicht stimmt. Warum der nicht zu uns passt. Vielleicht kommen wir sogar zu dem Schluss, dass der andere ein Narzisst sein muss. Wir fragen uns, was mit uns nicht stimmt. Warum wir nicht einfach glücklich sein dürfen. Was wir (noch) tun könnten. Denn aufgeben wollen wir zumeist nicht so leicht. Vielleicht haben wir auch keine Lust, uns schon wieder anzustrengen, uns in Schale zu werfen, damit uns irgendwer anders vielleicht gut und schön genug findet. Undsoweiter, undsoweiter.

Die Formulierung, eine Beziehung zu führen, macht es nicht besser. Stellen Sie sich vor, A führt in einer Beziehung, in der er von B, durch B und mit B erfüllt haben will, was er sich (!) von B verspricht, weil A glaubt, dass er das das nicht hat (und nur solche Dinge wünschen und versprechen wir uns von anderen). Was ist dann mit B? A benutzt B, oder? Und was ist mit A, wenn B in einer Beziehung führt, in der B von A, durch A und mit A erfüllt haben will, was B sich wünscht und sich (!) von A verspricht? Dann benutzt B den A – und ringt, mit A und mit sich selbst, um das, was richtig ist oder falsch, was einer darf und sollte und was nicht, was wer bei aller Liebe erwarten kann … oder nicht. Das ist ein enormes Ringen um eine aus meiner Sicht sehr fragwürdige Führungsposition in einer noch fragwürdigeren Angelegenheit.

Beziehungsarbeit bringt nichts

Warum die Arbeit daran – die Beziehungsarbeit – nichts bringt? Weil es nicht zielführend ist, an einer Be:ziehung zu arbeiten. Es ist nicht zielführend, an der Projektion zu arbeiten, an dem sich auf den anderen beziehen. Das läuft auf Handel hinaus, auf leisten und gefallen müssen, das Richtige tun, gut genug sein, nachgeben, Kompromisse eingehen, sich aufopfern. Warum? Weil der andere andernfalls keinen Grund hat, die Beziehung fortzusetzen, geschweige denn, sich seinerseits zu engagieren und sich einzubringen.

Warum wir das so dringend wollen? Meine Vermutung ist, dass wir das wollen, wenn und weil wir nicht erwachsen geworden sind, bzw. wenn und weil bestimmte Anteile in uns nicht erwachsen geworden sind. Denn nur ein (kleines) Kind braucht, was es braucht, will und wünscht von einem verlässlich und gut genug leistenden Gegenüber. Das hat nichts mit „Narzissmus“ zu tun, sondern mit der Beschaffenheit des unreifen, kindlichen Nervensystems und den motorischen Fähigkeiten des kindlichen Körpers. Wer (noch) in einem Kinderkörper steckt, kann nicht anders, als sich auf andere beziehen. Ihm sind die Ressourcen noch nicht gewachsen und gereift, die ihm erlauben und ermöglichen, das nicht mehr zu tun.

Von kindlichen Anteilen im Körper von Erwachsenen

Wer sich schon einmal gefragt hat, wie erwachsene Menschen dazu kommen, sich in bestimmten Situationen wie Kinder zu verhalten, dann lautet die Antwort: Diese Erwachsenen sind in der jeweiligen Situation sozusagen im „neuronalen Schaltkreis“ des Kindes, das sie einmal waren. Sie sind im entsprechenden Reaktionsmuster steckengeblieben. Dieses „Steckenbleiben“ ist nicht auf Böswilligkeit oder Dummheit, sondern auf Traumata zurückzuführen, Traumata, die sich über die Pubertät hinaus erhalten haben. Deshalb wird das sogenannte „spirituelle Erwachen“ auch als zweite Pubertät bezeichnet. Das Lernziel dieser zweiten Chance besteht darin, über die alten „Schaltkreise“ hinauszuwachsen. (Darum geht es übrigens auch in den sogenannten Seelenpartner-, Dualseelen- und Zwillingsflammen-Prozessen. Nehmen Sie die Begriffe nicht allzu ernst, ich benutze sie nur, weil es sie gibt.

Dreimal dürfen Sie raten, warum in der Pubertät Be:ziehungen – sprich „erste Liebesbeziehungen“, die „Peergroup“, „Cliquen“ usw. – außerhalb der Familie so sehr an Bedeutung gewinnen. Genau. Weil wir sie brauchen, damit uns die Sache mit dem sich beziehen bewusst wird. Be:ziehungen sind der Weg raus aus Be:ziehungen. Raus aus den alten, überholten, nicht mehr dienlichen Schaltkreisen rüber auf eine neue, zielführendere Datenautobahn. Neuroplastizität macht’s möglich.

Beziehung ade – aber Verbindung ist auch nicht besser

Vermutlich ahnen Sie bereits, worauf es hinausläuft, weil Sie das Wort „Verbindung“ gerade seziert haben und Ihnen die Vorsilbe „ver“ aufgestoßen ist. Damit liegen Sie ganz richtig. Es gibt mit Grund eine Bindung und eine Ver:bindung. Es gibt mit Grund auch das Gegenteil von Bindung – das ist aber nicht Verbindung, sondern Trennung.

Weiter zu Teil 2

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert