Die sogenannte Hochsensibilität ist mittlerweile in aller Munde und wird teilweise regelrecht gefeiert – als wäre ein Handicap eine Auszeichnung. Wenn man die Sache einmal vor dem Hintergrund der Polyvagal-Theorie betrachtet, dann zeigt sich, dass die Eigenschaft „hochsensibel“ nur auf heftige Reaktionen des autonomen Nervensystems auf bestimmte Reize bzw. Sinneseindrücke zurückzuführen ist. Jede Sekunde prasseln rund 11 Millionen Sinneseindrücke auf unser Nervensystem ein, unser Gehirn filtert davon etwa 40 heraus und komponiert diese zu der Realität, die wir situativ für wahr nehmen (Quelle). Jedes Gehirn findet aber mehr oder weniger andere 40 Sinneseindrücke situativ bemerkenswert, je nach dem, was in der Vergangenheit welche Spuren im System hinterlassen hat („Erinnerungen“). Deshalb kommt der Spruch „jeder lebt in seiner eigenen Welt“ nicht von ungefähr.
Durch Erfahrung hochsensibel
Nur wenn Spuren vorhanden sind, kann Erkennen stattfinden. Unser Gehirn liest diese Spuren ständig aus und vergleicht die Abdrücke aus der Vergangenheit („Fährten“) mit den aktuellen Eindrücken. Wenn aktuelle Sinneseindrücke in eine Fährte passen, bekommen wir von unserem Gehirn genau die inneren Bilder, Daten, Gefühle, Emotionen und Empfindungen „eingespielt“, die aus der „Sicht“ unseres Gehirns erforderlich sind, damit wir gemäß unserer Erfahrungen („richtig“) handeln können, bewusst, unbewusst und autonom. Da jeder Mensch (und auch jedes Tier) andere Erfahrungen hat, bekommt jeder von seinem Gehirn andere Bilder, Daten, Gefühle, Emotionen und Empfindungen eingespielt. Scheinbar Hochsensible reagieren nur dann „hochsensibel“, wenn ihnen ihre Erfahrung „sagt“, dass ihre Welt gerade voller Gefahren ist. Real existieren müssen Gefahren dafür nicht, das Gehirn des Betroffenen „riecht“ sie nur überall. Und wenn es etwas „riecht“, mobilisiert es entsprechende Kräfte. Das geschieht vollkommen autonom und ist willentlich nicht beeinflussbar. Die besagten ‚Kräfte‘ sind als unsere „Überlebensprogramme“ bekannt.
Kampf oder Flucht?
Eines der „Programme“, die ablaufen, wenn unser System Überlebensenergien mobilisiert, ist die berühmte Kampf-oder-Flucht-Reaktion, die mit unangenehmen, mehr oder weniger heftigen Emotionen einhergeht und bei der es zu einem „Tunnelblick“ kommt in Bezug auf das, was aus der „Sicht“ des „hochsensiblen“ Gehirns in der jeweiligen Situation gemäß früherer Erfahrungen mehr oder weniger schlecht zu sein scheint. Bei diesem Schlechten kann es sich gegenwärtig um eine offensichtliche Kleinigkeit handeln. Als das erinnerte Geschehen aber gegenwärtig war, wurde es vom jeweiligen System als richtig große Sache wahrgenommen – und entsprechend abgespeichert. Daher rühren die Emotionen, die „hochkommen“, wenn sie „getriggert“ werden, wie es so schön heißt. Tatsächlich hat das Gehirn in einem solchen Moment aber nur festgestellt, dass ein aktueller Sinneseindruck in einen Abdruck, eine Fährte, von früher passt – und mehr oder weniger umfassend Überlebensenergien freigesetzt.
Hochsensible bemerken weniger, nicht mehr
„Hochsensible“ meinen bzw. glauben nur deshalb, mehr zu bemerken, weil sie die Beobachtung machen, dass sei auf auch auf ‚Kleinigkeiten‘ emotional heftig reagieren, während „Nicht-Hochsensible“ das nicht tun. Wegen des „Tunnelblicks“ bemerken sie dennoch nicht, was die Situation außer ihren Triggern sonst noch ausmacht und ihren Eindruck vielleicht relativieren würde. Das blendet das Gehirn als „unwesentlich“ aus, lässt es also sozusagen nicht Teil der 40 aus 11 Millionen Sinneneindrücke werden. Aber nur weil das Gehirn etwas ausblendet, muss das Ausgeblendete tatsächlich ebenso wenig unwesentlich sein wie das, was als wesentlich eingestuft wurde, tatsächlich wesentlich sein muss. Wahrnehmung ist eben nicht zwangsläufig die Wahrheit, auch wenn sie die Wahrheit sein kann.
Im Endeffekt ist also entweder jeder Mensch hochsensibel – oder keiner. Denn bei uns allen findet in Sachen Tunnelblicke und Ausblenden dasselbe statt, nur dass bei jedem andere Sinneseindrücke die entsprechenden Reaktionen auslösen, weil jeder andere Erinnerungen hat und auf andere Sinneseindrücke „sensibel“ reagiert. Eine durch Trauma beeinträchtigte autonome Selbstregulationsfähigkeit (Dysregulation) kann „Sensibilitäts-Problematiken“ verschärfen.
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