Für den Begriff „Bio-Hacking“ gibt es keine ‚offizielle‘ Definition, d.h. man findet das Wort nicht in der wissenschaftlichen Literatur. Bio-Hacking beschreibt „semi-umgangssprachlich“ unter denen, die mit den Hintergründen der Polyvagal-Theorie wirklich vertraut sind, alle Strategien, die darauf abzielen, den Körper zu überlisten und das autonome Nervensystem so zu manipulieren, dass es quasi „aus Not“ einen Entspannungszustand herbeiführt. Die „Not“ rührt daher, dass der Körper bewusst und willentlich in eine Situation gebracht wird, aus der er nicht entfliehen kann, weil wir uns nicht entsprechend bewegen. Beispiele dafür sind Atemtechniken, Vagus-Massagen, Autogenes Training, Kältebäder, Meditationen, Shakti-Matten, Schütteln u.v.m.
Aus der Polyvagal-Theorie wissen wir, dass unser Nervensystem Entspannung auf zweierlei Weise herbeiführen kann. Strategien, die letztlich nur dazu führen, dass man sich selbst „ausknipst“, wenn es „stressig“ wird, trainieren dabei lediglich einen dorsal-vagalen Zustand des Shut-Downs. Sie führen nicht zu einer Verbesserung der autonomen Selbstregulationsfähigkeit des Körpers. Ohne äußere Maßnahme nicht oder nicht leicht „runter“ zu kommen, ist kennzeichnend für Dysregulation. Deshalb ist Bio-Hacking lediglich eine Notlösung und keine sinnvolle Behandlungsstrategie.
Wann kommt es zu Bio-Hacking?
Zu Bio-Hacking kommt es im Zuge jeder Manipulation des Vagussystems, die Möglichkeiten sind vielfältig. Es gibt endlos Anleitungen dafür, in Büchern, Videos, Seminaren u.ä. Hellhörig dürfen Sie insbesondere dann werden, wenn Sie im Rahmen diverser Übungen dazu angehalten werden
- die Augen zu schließen,
- in bestimmter Weise zu atmen,
- sich nicht mehr zu bewegen,
- den Vagus zu massieren,
- die Umgebung auszublenden, insbesondere Geräusche,
- sich „heiter“ zu fühlen oder „innerlich zu lächeln“,
- sich „ganz auf sich zu konzentrieren“,
- Schmerz herbeizuführen.
Die Liste ist nicht abschließend.
Beispielhafte Erläuterungen
Die Augen zu schließen und Dinge auszublenden stellt aus der Perspektive des autonomen Nervensystems einen künstlichen Kontaktabbruch dar, eine absichtliche Beeinträchtigung der Neurozeption. Unserem System wird dadurch der Zugang zu einer Vielzahl an Informationen verwehrt, Informationen, die situativ und im Einzelfall essenziell sein können, um in der Lage zu sein, (autonom!) das Gefühl der Sicherheit zu generieren. Es muss nicht bei jedem passieren, aber wer von Trauma betroffen ist – ob er das weiß oder nicht – kann hier erfahren, wie seine autonomen Überlebensprogramme hochfahren. Geht der Sympathikus verstärkt online, „funktioniert“ die jeweilige Übung zunächst nicht – die Gedanken fangen an, zu rasen, die Muskeln zucken, es juckt, man schwitzt, kann nicht stillsitzen, erinnert plötzlich unschöne Situationen oder unangenehme Emotionen usw. Merkt das System, dass die Situation nicht endet (weil wir die Situation nicht verlassen, nicht aufhören), setzt früher oder später ein Shut-Down ein (das kann aber auch direkt passieren, wenn nicht erst der Sympathikus hochfährt). Ein Shut-Down fühlt sich dabei keineswegs unangenehm an, im Gegenteil, vor allem dann, wenn man Entspannung nur in Form von Shut-Down kennengelernt hat.
Betroffene, die anfangs „sympathikotone Schwierigkeiten“ hatten, interpretieren einen Shut-Down in der Regel als „endlich funktioniert es – ich habe (z.B.) Meditieren gelernt“. Dabei könnte von der Wahrheit kaum etwas weiter entfernt sein, denn der Zustand, der als „Stillness“ oder „Einklang“ bezeichnet wird, beruht nicht allein auf dorsaler Vagus-Aktivität, sondern auf dorsaler und ventraler. Kontaktabbruch geht jedoch immer mit einem Zurückfahren ventral-vagaler Aktivität einher – deshalb berichten so viele Menschen davon, dass sie bei Achtsamkeitsübungen, Body-Scans, Progressiver Muskelentspannung, Autogenem Training etc. „immer einschlafen“.
Bio-Hacking vermeiden: Was ist zu tun?
Sie müssen sich „manipulationsträchtige“ Angebote nicht verbieten – gehen Sie aber bewusst damit um. Schließen Sie beispielsweise die Augen nur dann, wenn Sie merken, dass Ihr System im Rahmen einer Achtsamkeitsübung, einer Meditation o.ä. wirklich danach verlangt. Fragen Sie Ihr System, was es möchte. Wenn Sie unsicher sind, ob Sie die Signale Ihres Körpers richtig deuten, machen Sie während der Übung ab und an die Augen auf und lassen Sie Ihr System aus Ihrem Kopf herausschauen. Beobachten Sie, was dann passiert. Bemerken Sie einen spontanen tiefen Atemzug, einen „Seufzer“ o.ä., ist Ihr System erleichtert, dass Sie noch da sind und offenbar gewillt, ihn neurozeptiv die Situation checken zu lassen. Zwingen Sie sich niemals, die Augen zu schließen, wenn die offen sein „wollen“. Wenn Sie merken, dass Ihr System die Augen schließen will, schaffen und nutzen Sie mehr Gelegenheiten, um zu schlafen – selbst, wenn es nur kurze Nickerchen sind.
Werden Sie hellhörig, wenn Ihnen versprochen wird, dass Ihnen irgendeine Methode oder „Technik“ Zeit oder „lästige Nebenwirkungen“ erspart. In Bezug auf das Nervensystem, auf Dysregulation, autonome Selbstregulationsfähigkeit und das Anlegen neuer „Datenautobahnen“ im Gehirn ist das – mit Verlaub – Käse.
Stimulieren Sie NIE Ihren Vagusnerv
Unter Bio-Hacking im engeren Sinne fallen Techniken und Methoden, die für sich beanspruchen, Ihren Vagusnerv „zu stimulieren“. Das versprechen allerlei Handhaltungen, Augenbewegungen, Wirbelsäulen-Aufrichtungen, Atlaskorrekturen, Atemtechniken, Massagen, Kältebäder usw. Ich will solche Behandlungen keineswegs schlechtreden, sie haben alle ihren Nutzen und ihre Daseinsberechtigung. Aber: Nutzen Sie sie nicht ausgerechnet, „um Ihren Vagusnerv zu stimulieren“. Sie stimulieren den – aber nicht so, wie es Ihrem Nervensystem zuträglich ist. Im Zweifel manipulieren Sie sich auch hier nur in sympathikotone und dorsal-vagale Zustände hinein, die Ihnen vorgaukeln, was in Wahrheit gar nicht ist – und die eine evtl. vorhandene Dysregulation nur noch weiter festigen.
Seien Sie vor allem dann vorsichtig, wenn Sie dazu angehalten werden, sich einem unangenehmen Reiz auszusetzen, „bis dieser verschwindet“ oder Sie einen wie auch immer gearteten „transzendenten Zustand“ erreichen. Auch das geht auf den Freeze bzw. das Notfallprogramm des dorsalen Vagussystems zurück, das mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Betäubungszustand verbunden ist. Vor allem vom Gebrauch einer sogenannten Shakti-Matte rate ich vor diesem Hintergrund eindringlich ab. Eine Shakti-Matte ist eine Unterlage mit Hunderten winziger Spitzen, die durchaus schmerzhaft in die Haut pieken, wenn man sich auf solch eine Matte legt. Sie dient dem Zweck der „Tiefenentspannung“. Ihre Wirkweise basiert aber eben auf dem Betäubungszustand, der im Rahmen eines Shut-Downs einsetzt, wenn die gesunde Rest-and-Digest-Ebene Richtung Ohnmacht verlassen wird.