Das Wort „Nagi“ stammt aus dem Vokabular der Lakota. Ich verwende es sehr gern, um Ihnen eine Vorstellung, ein „inneres Bild“, dessen zu vermitteln, was der Kern meiner Arbeit ist. ‚Nagi‘ steht für das Geschichten-Orchester, das unser Leben ist, für den Schwarm oder das Heer an Situationen, Begebenheiten und Charakteren, die uns widerfahren sind und fortwährend weiter begegnen. Unser gesamtes Leben ist aus den Nagi gewebt, fast wie ein Spinnennetz. Rührt irgendetwas an eine Erinnerung, merken wir das, ganz egal an welcher Stelle unser „Netz“ im sogenannten Jetzt & Hier gerade fortgeschrieben wird. Und weil unser Leben aus den Nagi gesponnen wird, bestehen auch wir selbst aus unseren Nagi, jeder einzelne als der, der er ist. Nicht wir erzählen also unsere Lebensgeschichte/n. In Wahrheit erzählen unsere Lebensgeschichten uns.
Alles wurzelt in den Nagi
So wie wir in dieser Welt „erscheinen“, setzen wir uns aus sämtlichen Begebenheiten und Begegnungen zusammen, die in unserem Leben stattgefunden haben. Entsprechend bezieht sich der Begriff ‚Nagi‘ nur auf unsere Lebensgeschichte/n als solche, sondern auch auf die, die als Erzähler und „Mitspieler“ an unseren Geschichten beteiligt sind. Wir selbst in all unseren Facetten und Anteilen gehören auch dazu. In dem, was wir glauben, übernehmen, abwehren, über uns erzählen lassen und selbst über uns erzählen, konstruieren wir Erinnerungen, stricken Glaubenssätze, scheinbare Wahrheiten und Erkenntnisse. Manche davon dienen uns und bringen uns weiter, andere hemmen, beeinträchtigen und blockieren uns. Beide mit diversen Folgen für unsere weiteren Lebensgeschichten.
Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis, Potenzialentfaltung und Heilung im Sinne von Ganzwerden wurzeln deshalb tief in unseren Nagi, was einer der Hauptgründe dafür ist, dass das Geschichtenerzählen – neudeutsch „Storytelling“ – in allen indigenen Kulturen einschließlich unserer eigenen eine so große Rolle spielte und spielt. Auch hierzulande ist „Storytelling“ zu einem Schlagwort avanciert: zur „magischen Pille“ in Therapie und Pädagogik, zum (einzigen) Patentrezept in Beziehungsarbeit und Mediation, zur Schlüsselqualifikation in Bewerbungsgesprächen und auf der Karriereleiter. Die Fähigkeit, uns selbst und anderen gute Geschichten erzählen zu können – gut im Sinne von hilfreich, fruchtbar oder dienlich – beeinflusst Denken und Fühlen, Handeln und Auftreten, Entscheidungen und Chancen. Sie öffnet uns Türen oder schlägt Türen zu, fördert unsere Entwicklung oder macht Fortschritte zunichte, schwächt unsere Selbstheilungskräfte oder mobilisiert sie.
Nagi, Story & Geschichte
Das Wort ‚Nagi‘ an sich ist wie ‚Story‘ und ‚Geschichte‘ für mich überaus interessant. Folgt man der Theorie des Sprachforschers Erhard Landmann, lässt sich eine Verwandtschaft des Lakota-Wortes ‚Nagi‘ mit dem althochdeutschen Begriff ‚Nahi‘ vermuten. Landmann ging davon aus, dass alle Sprachen auf eine ursprünglich allen Menschen gemeinsame Sprache zurückgeführt und mithilfe des Althochdeutschen übersetzt werden können. ‚Nahi‘ steht für ‚die Nahen‘, die ‚Nachbarn‘, was auf die Nagi durchaus zutrifft, ist uns doch nichts und niemand so nah wie das, was uns erzählt. Zudem beruhen die Buchstaben g und h auf dem gleichen Laut. Er begegnet uns im Englischen in Worten wie laughter für Lachen oder brought für gebracht u.ä.
Was das Wort ‚Geschichte‘ betrifft, so zeigt es sich mir nicht weniger spannend. Da es die Worte „Schicht“ und „geschichte(t)“ beinhaltet, bin ich beinahe geneigt, nicht mehr die Geschichte zu sagen, sondern eher von das Geschichte(te) auszugehen. Wenn bisweilen von den „Schleiern der Erinnerung“ gesprochen wird, finden sich darin tatsächlich die Schichten dessen, was erinnert wird, wieder: die Geschichten, die mit den Erinnerungen verbunden sind. Das Wort „Stores“ für „Vorhänge“ schlägt die Brücke zur „Story“, dem englischen Begriff für ‚Geschichte‘. Auch in Story steckt ein Geschichte, wie Worte wie ‚to store‘ für ‚lagern‘ oder ’storage‘ für ‚Speicherung‘ oder ‚Lagerung‘ offenbaren. In der Lagerung steckt sogar die Lage, die Schicht. Womit die Formulierung „stored stuff“ für „gespeicherte Sachen“ oder „gespeichertes Zeug“ in Bezug auf Nagi, Story und Geschichte im Grunde nichts Geringeres als beschreibt als das geschichtete Zeug bzw. die geschichteten Zeugnisse unseres Seins.
Mehr als Biographie
Hinter dem Wort „Biographie“ verbirgt sich mithin noch viel mehr als das, was sich aus „Bio“ für „Leben“ und „graphie“ für Schreiben, Zeichnen, Form(en) oder Gestalt(ung) ergibt. Fast scheint es mir, dass „Biographie“ im Grunde nur ein durch Definition trivial und „entschichteter“ Begriff für das ist, was sich nur vor dem Hintergrund der Bedeutung der Nagi, der Story und des Geschichtes begreifen lässt. Selbst der gute alte Fakt ist nur das Ergebnis eines solchen.
Hinzu kommt, dass aus dem Wort „Biographie“ nicht hervorgeht, dass die Geschichten, die wir über uns erzählen und erzählen lassen, flexibel und wandelbar sind. Die Nagi lassen sich verändern, wenn uns Erzähler und Erzählungen nicht dienen, uns vielleicht sogar hemmen, „niedermachen“ oder beeinträchtigen. Das gilt auch und gerade vor dem Hintergrund, dass sich in unserem Leben nichts, was geschehen ist, ungeschehen machen lässt.
Wenn Sie sich für weitere Facetten der Thematik interessieren, lesen Sie mehr unter Was Erinnerung mit Kommunikation zu tun hat. Außerdem könnte für Sie interessant sein: