Der Begriff “Neurozeption” beschreibt, wie unser autonomes Nervensystem – salopp ausgedrückt: unser Körper als eigenständiges, autonomes Wesen oder „Avatar unseres Geistes“ – Informationen aufnimmt und verarbeitet, ohne die denkenden Regionen des Gehirns zu involvieren. Ein Synonym für Neurozeption ist “autonome Wahrnehmung”. Wichtig ist, in Bezug auf Wahrnehmung zu berücksichtigen, dass „wahrnehmen“ mehr ist als “bemerken”, auch wenn beide Worte häufig synonym verwendet werden. Tatsachlich geht „wahrnehmen“ weit über „bemerken“ hinaus: Denn es ergibt sich aus der Synthese von einem Sinneseindruck und dessen Weiterverarbeitung innerhalb unseres Nervensystems.
In unserem Gehirn werden Sinneseindrücke auf zweierlei Weise verarbeitet:
- logisch, rational und bewusst durch Überlegung und das Initiieren willentlichen Verhaltens (Nutzung des Verstandes, Kognition)
- autonom und automatisch, ohne dass die “denkenden Regionen” des Gehirns in die Verarbeitung der Sinneseindrücke und deren Bewertung einbezogen werden – auf diese Weise wird unwillkürliches Verhalten herbeigeführt
Aufgabe der Neurozeption
Auf Neurozeption basiert dasjenige Verhalten unseres Körpers, das unsere Organe, Nervenzellen, Drüsen und Gewebe betrifft – im Grunde das Verhalten, das wir aus Gründen des Überlebens nicht willentlich beeinflussen können (sollten). Stellen Sie sich vor, Sie müssten immer erst willentlich festlegen, wie schnell oder langsam Ihr Herz für welche Aktivität schlagen soll, darf oder muss. Wie Sie schlafen würden, wenn Sie immer daran denken müssten, zu atmen (Delfine müssen das übrigens) und Ihr Herz schlagen zu lassen. Was Sie darüber hinaus in Ihrem Verdauungstrakt „anleiern“ müssten, um Ihre letzte Mahlzeit verdauen zu können. Womit Sie darüber hinaus beschäftigt wären, wenn Ihnen Ihr „Immunsystem“ nichts abnehmen könnte. Stellen Sie sich vor, wie groß der Schaden wäre, den Ihre Hand von der berühmten heißen Herdplatte davontragen würde, wenn Sie erst noch nachdenken müssten, ob und wie schnell Sie die Hand wegziehen.
Auf der Basis der Neurozeption regelt das alles – und noch viel mehr – unser autonomes Nervensystem. Neurozeptiv – also „autonom wahrnehmend“ – liegt es dabei permanent nach Signalen für Sicherheit und Gefahr auf der Lauer, speziell
- in unserem Körper,
- in unserer Umgebung,
- zwischen uns und anderen Menschen und
- zwischen uns und anderen Lebewesen.
Wie viel Verstand darf’s wann sein?
Via Neurozeption beantwortet sich unser ‚System‘ selbst und nach eigenem Ermessen die Frage „bin ich in diesem Moment sicher und geborgen oder bin ich in Gefahr?“. Und via autonomes Nervensystem regelt unser Gehirn unter Umgehung seiner denkenden Strukturen dann fein abgestimmt und automatisch sämtliche Organfunktionen so, dass wir befähigt werden, die jeweilige Situation mit den uns individuell zur Verfügung stehenden Ressourcen und Kapazitäten zu bewältigen – sprich: sie für unsere Verhältnisse in idealer Weise zu überleben.
Je größer aus der ‚Sicht‘ dieses autonomen Systems eine wahrgenommene Gefahr ist, desto weniger lässt es zu, dass wir ihm mit unserem Verstand dazwischen funken und einen Fuß in die Tür zu unserem Verhalten bekommen. Kein Wunder also, dass wir unsere höchsten und besten Lern- und Verstandesleistungen dann erbringen, wenn wir uns (neurozeptiv!) nicht in irgendeiner Gefahr wähnen. Selbst wenn wir denken, wir wären sicher, kann unsere Neurozeption ganz anderer Meinung sein – und nur bzw. erst, wenn ’sie‘ grünes Licht gibt (weil ’sie‘ meint, dass alles sicher ist), lenkt unser autonomes System unsere Lebensenergie ins Leben, in die Entfaltung unseres Potenzials und unserer Kreativität – und nicht in Überlebensreaktionen.
Irren ist menschlich – und auch Neurozeption kann sich irren
Wahrnehmung ist nicht die Wahrheit – nur das, was ‚wir‘ und in Bezug auf die Neurozeption unser ‚System‘ für wahr nehmen. Entsprechend kann sich auch Neurozeption irren: Denn Reaktionen, von denen wir und/oder unser autonomes System meinen, dass sie uns einmal das Leben gerettet haben, werden als Erinnerungen abgespeichert (siehe auch Trauma ist nicht, was Sie denken und Was Erinnerung mit Kommunikation zu tun hat). Es gibt diesbezüglich 2 Arten von Erinnerungen:
- explizite Erinnerungen, die mit willentlich abrufbaren Bildern und Daten verknüpft sind
- implizite Erinnerungen, die nicht mit Daten und Bildern verknüpft sind („Emotionen“, nicht Gefühle).
Implizite Erinnerungen (auch “prozedurale Erinnerungen” genannt) sind in gewisser Weise „Erinnerungen nur des Körpers“. Sie werden lebenslang und sogar bereits vor unserer Geburt generiert und nie vergessen. Unser Körper erinnert sich entsprechend an alles, was uns – bzw. ihm – je widerfahren ist. Er speichert aber eben keine objektive Wahrheit, sondern das, was er für wahr genommen hat.
Neurozeption: Wahrnehmung ist nicht die Wahrheit
In Situationen, in denen wir und/oder unser System etwas wichtig und (be)merkenswert findet – aus welchen Gründen auch immer – macht „es“ gleichsam eine Momentaufnahme aller Sinneseindrücke in der betreffenden Situation. Diese Eindrücke speichert es ebenso wie seine Reaktion darauf, denn die hat ja – nach seiner Wahrnehmung – einen (be)merkenswerten Erfolg nach sich gezogen). Wann immer die Neurozeption später Ähnlichkeiten mit einer früheren Situation meldet, regelt es unsere Organfunktionen genauso wie in der Situation damals. Unter Umständen werden wir so zu situativ „nicht angemessenen“ emotionalen Reaktionen und entsprechendem Verhalten veranlasst, ohne uns erklären zu können, wieso. Verhalten und/oder Gefühle, Emotionen, Empfindungen, Gedanken beherrschen, unterdrücken oder mittels irgendwelcher Maßnahmen von außen „regulieren“ zu wollen, löst das Problem nicht, denn nichts davon hat irgendeinen Einfluss auf die Neurozeption. Im Zweifel werden Probleme (vor allem bei Vorliegen von Trauma) im Laufe der Zeit nur schlimmer (Stichwort Bio-Hacking).
Mit neurosensorischem Training das Nervensystem reorganisieren
Mit neurosensorischem Training lässt sich unsere Neurozeption – die autonome Wahrnehmung – neu unterrichten und neu justieren. Das ‚System‘ kann maladaptive Stressreaktionen „verarbeiten“ und sich (sprichwörtlich) neue autonome Reaktionsmuster erwachsen (Neuroplastizität). Sinneseindrücke werden dann autonom anders bewertet, mit der Folge, dass Belastungen, die gar keine Belastungen sein müssen, nicht mehr als Belastung wahrgenommen werden. Die Überlebensprogramme unseres Nervensystems bleiben dennoch einsatzbereit, gehen aber nicht mehr online in Situationen, in denen das Überleben tatsächlich nicht gefährdet ist.
Das ist übrigens auch gemeint, wenn im Zen die Rede davon ist, dass eine Tasse erst leer sein muss, ehe eingeschenkt werden kann.