Die Polyvagal-Theorie geht von einer funktionalen Zweiteilung des Parasympathikus aus. Dieser ist Teil unseres peripheren Nervensystems. Dazu gehört im Grunde alles, was nicht Gehirn und Rückenmark ist.
Das Periphere Nervensystem unterteilt sich seinerseits in das somatische (willkürliche) und das vegetative (autonome) Nervensystem. Mittels unseres somatischen bzw. willkürlichen Nervensystems können wir all das tun, was wir willentlich steuern können. Über das vegetative bzw. autonome Nervensystem, läuft alles, was sich unserer willentlichen Beeinflussung entzieht.
Sympathikus & Parasympathikus
Das vegetative bzw. autonome Nervensystem unterteilt sich seinerseits in 2 Zweige: den Sympathikus und den Parasympathikus. Die beiden werden oft als „Gegenspieler“ bezeichnet, weil über den einen (den Sympathikus) ‚Aktivierung‘ und über den anderen (den Parasympathikus) ‚Entspannung‘ herbeigeführt wird. Tatsächlich spielen Sympathikus und Parasympathikus aber fein abgestimmt zusammen. Was der eine aktiviert, regelt der andere herunter und umgekehrt. Beide sind weitgehend gleichzeitig bzw. parallel „online“, je nach Situation der eine mehr, der andere weniger. An den Enden der Aktivitätsskala manifestieren sich die auf Neurozeption basierenden Überlebensprogramme unseres Körpers: Fight/Flight (Kampf/Flucht) und Freeze (Einfrieren, Kollaps, Betäubung, Ohnmacht).
Die “Polyvagal-Theorie”
Was allgemein noch wenig bekannt ist, geht auf eine Entdeckung des US-amerikanischen Neurologen Steven Porges zurück und wird als „Polyvagal-Theorie“ bezeichnet. Der Begriff basiert dem Namen des größten Nervs des Parasympathikus, dem Vagusnerv. Der Vagusnerv wird auch als „wandernder“ oder „umherschweifender“ Nerv bezeichnet. Er entspringt in unserem Stammhirn, innerviert sämtliche „Displays“, über die wir uns gefühlsmäßig ausdrücken und auch fast alle unsere Organe. Das Vagussystem insgesamt ist das, was wir landläufig als unser “Bauchgehirn” oder den „Sitz unserer Intuition” bezeichnen.
Porges hat nachgewiesen, dass sich der Vagusnerv innerhalb des Parasympathikus auch nochmal in zwei ‚Zweige‘ unterteilt: einen dorsalen („hinten“ liegenden) und einen ventralen („vorn“ liegenden). „Vorn“ und „hinten“ müssen beim Menschen eher im Sinne von „oben“ und „unten“ verstanden werden, da wir im Gegensatz zu anderen Säugetieren „vertikal“ auf zwei Beinen gehen und nicht „horizontal“ auf vier Beinen. Das ventrale Vagussystem liegt bei uns also „oben“, bei anderen Säugetieren „vorn“ – das dorsale Vagussystem bei uns entsprechend „unten“, bei anderen Säugetieren „hinten“. Getrennt werden die beiden Systeme durch das Zwerchfell. Sie erfüllen unterschiedliche Funktionen.
Polyvagal-Theorie: Aufgabe des dorsalen Vagussystems
Über das dorsale Vagussystem entspannen wir ohne Kontakt zu anderen Lebewesen – allerdings auf mehreren Ebenen. Zuoberst befindet sich dabei der berühmte „Rest-an-Digest“ Zustand, in dem Ruhe, Schlaf, Verdauung und Heilung/Erholung stattfinden können. Je tiefer dieser Zustand wird, desto mehr geht er in Betäubung, Ohnmacht, Koma und schließlich Tod über („Kollaps“). Das passiert aber nicht „einfach so“, sondern als autonome Reaktion auf eine individuell wahrgenommene Gefahr für Leib und Leben, der wir uns nicht durch irgendein Verhalten entziehen können. Aus dem Tierreich kennen wir diesen Kollaps oder auch „Shut Down“ als Totstell-Reflex. Tiere stellen sich dabei nicht absichtlich tot. Ihr ‚System‘ knipst sie sprichwörtlich aus.
Polyvagal-Theorie: Aufgabe des ventralen Vagussystems
Über das ventrale Vagussystem entspannen wir im Kontakt zu anderen Lebewesen, wenn und weil wir uns in ihrer Anwesenheit auf allen Ebenen – bewusst, unbewusst und autonom – sicher fühlen und unsere Lebensenergien nicht in bewusste, unbewusste oder autonome Maßnahmen von Abwehr oder Verteidigung investieren. Es ist dies der Zustand, in dem wir uns aufgrund unserer bloßen Existenz wohl und lebendig fühlen, angebunden, angenommen, zugehörig, gesehen usw., ohne dass wir dafür irgendetwas leisten, beweisen, verbergen oder verleugnen müssten. Es ist dies der Zustand, in dem uns unsere Lebensenergien voll und ganz für die Entfaltung des in uns liegenden kreativen Potenzials zur Verfügung stehen.
In diesem Zustand ist „Entspannung“ nicht gleichzusetzen mit Inaktivität. Wir können in diesem Zustand sogar hochgradig mobilisiert sein, etwa bei einem Mannschaftsspiel. Fühlen wir uns darin wohl und sicher, sind Sympathikus und ventrales Vagussystem gleichzeitig online, das dorsale Vagussystem ist „runtergefahren“. Dennoch können wir in diesem Zustand auch inaktiv sein. Sind gleichzeitig das ventrale und das dorsale Vagussystem aktiviert, erleben wir das, was „innere Stille“ oder auch „Einklang“ genannt wird.
Die Polyvagal-Theorie bildet den wissenschaftlichen Hintergrund neurosensorischen Trainings. Mehr darüber lesen Sie unter Neurosensorisches Training.