Der Erfolg von innerem Spurenlesen, dem Kernelement von neurosensorischem Training, beruht auch darauf, dass wir durch das Tracken von Sinneseindrücken den Prozess unserer Wahrnehmung verstehen und zu beeinflussen lernen. Das geschieht im Zuge der Entwicklung und Weiterentwicklung unserer Bewusstheit für die eigene Wahrnehmung. Um auf einer tieferen Ebene zu begreifen, was Wahrnehmung ist und in welche Wahrnehmungsbereiche uns inneres Spurenlesen führt, lohnt ein Blick auf ein Synonym: Perzeption, engl. perception. 

„Zept“ oder „Zeption“ bzw. „cept“ oder „ception“ geht auf das lateinische Wort „capere“ zurück, das „nehmen“, „fassen“, „begreifen“ bedeutet und eine interessante Richtung bekommt, wenn man das Wort „kapern“ im Sinne von „ein Schiff kapern“ ins Spiel bringt: Dann wird im Hinblick auf Wahrnehmung aus „nehmen“ oder „empfangen“ das übergriffigere „übernehmen“ bzw. „ergreifen“ – eben „kapern“. Genau das tun Sinnesreize im Zuge von Wahrnehmung: Sie entern unser System mit einer Selbstverständlichkeit, die unser System dazu zwingt, sie zu „verarbeiten“. Das spiegelt sich auch in der Definition für Wahrnehmung wieder. Diese Definition besagt, dass sich der Begriff „Wahrnehmung“ nicht nur auf das Bemerken von etwas bezieht, sondern auch darauf, wie ein bemerktes Etwas innerhalb unseres Nervensystems weiterverarbeitet wird (mehr unter inneres Spurenlesen). Sinnesreize bzw. Sinneseindrücke gehen in uns hinein, und wir müssen sie „empfangen“, weil wir gar nicht anders können. Unser System wird mit Eindrücken versetzt wie die Trägersubstanz eines Zaubertranks mit den Ingredienzen, die ihn ausmachen. Genau das bedeutet der Wortteil „zeption“ bzw. „ception“ in „Perzeption“ / „perception“. Die Vorsilbe „Per-“ erklärt sich von selbst: „per“, „via“, „durch“. Wahrnehmen ist also sozusagen „durch Entern unvermeidbar empfangen müssen“. Und dafür haben wir: unsere Sinne.

Wahrnehmung verstehen mit mehr als 5 Sinnen

Im Allgemeinen beschränkt sich das landläufige Bild, das wir uns von Wahrnehmung machen, auf Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken. Dabei nehmen wir noch weitaus mehr wahr als das, was unser System über unsere Augen und Ohren, über Nase, Mund und Haut entert. Für das neurosensorische Training habe ich deshalb eine eigene Systematik der Sinne und der Bereiche entwickelt, in denen Perzeption stattfindet. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ist auch nicht „wissenschaftlich belastbar“. Nach meiner Erfahrung erweist sie sich dennoch sowohl beim inneren Spurenlesen als auch bei der Entwicklung und Weiterentwicklung von Bewusstheit für unsere Wahrnehmung als sehr hilfreich.

Exterozeption

Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken sind wie gesagt als die „5 Sinne“ bekannt. Die diesbezügliche Wahrnehmung wird als „Exterozeption“ oder „Außenwahrnehmung“ bezeichnet. Reize von außen entern unser System über eigene Rezeptoren, die wie Einfallstore für Sinneseindrücke von außen wirken. Sie werden „Exterozeptoren“ genannt und befinden sich in unseren Augen und Ohren, in unserer Nase, in unserem Mund, in unserer Haut.

Interozeption

„Interozeptoren“ heißen entsprechend die nach innen gerichteten Einfallstore für Reize, die aus unserem Körperinneren stammen. Die diesbezügliche Wahrnehmung ist als „Interozeption“ bekannt. Der Begriff Interozeption beschreibt die Wahrnehmung von Reizen, die auf das Verhalten unserer Organe, Drüsen, Gewebe und Nervenzellen zurückgehen. Interozeption sorgt in meiner Systematik für unseren „6. Sinn“ und dafür, dass wir Hunger verspüren können, Durst oder Schmerz, das Schlagen unseres Herzens, unser Ein- und Ausatmen, „Schmetterlinge“ im Bauch u.ä.

Neurozeption

Eine Art Mischung von Außen- und Innenwahrnehmung stellt die „Neurozeption“ dar. Dieser Begriff beschreibt, wie sich unser System autonom mit Sinneseindrücken im Hinblick auf Sicherheit auseinandersetzt – und zwar ohne die denkenden Regionen des Gehirns zu involvieren. Damit sorgt Neurozeption für unseren sogenannten „7. Sinn“. Auf Neurozeption beruhen die Überlebensprogramme unseres autonomen Systems, in der Biologie als die „4F“ bekannt: Fight, Flight, Freeze & Faint (Kampf, Flucht, Erstarren und Ohnmacht, mehr dazu unter Was besagt die Polyvagal-Theorie).

Propriozeption

Eine weitere Art Mischung von Außen- und Innenwahrnehmung ist die „Propriozeption“. Sie wird auch als „Tiefenwahrnehmung“ bezeichnet und bezieht sich auf die Wahrnehmung der Position, Haltung und Bewegung des Körpers und seiner Gliedmaßen im Raum. Propriozeptoren befinden sich in Muskeln, Sehnen, Faszien und Gelenken. Wollen wir die Nummerierung unserer Sinne noch weiter fortführen, können wir die Propriozeption unseren „8. Sinn“ nennen.

Metazeption

Wenn wir die Innenwahrnehmung auch auf die Wahrnehmung unserer mentalen Aktivitäten ausdehnen, kommen wir zu etwas, das ich „Metazeption“ nenne. Ich beschreibe mit dem Begriff insbesondere die Wahrnehmung unserer Gedanken und unseres Denkens, die Wahrnehmung unseres Bewusstseins, unserer Bewusstheit und unserer Identität und beispielsweise auch die Wahrnehmung von Antizipation. Außerdem erstrecke ich den Begriff auf die Wahrnehmung der wundersamen Metamorphose von Potenzial zu Realität in Bezug auf unser Dasein und alles damit verbundene Geschehen. Als Potenzial betrachte ich insoweit alles was sein kann („0“), als Realität das, was sich manifestiert („1“), ganz gleich ob durch Tun oder Unterlassen. Dem, was tatsächlich JETZT ist, hinken wir dabei in gewisser Weise immer hinterher, denn Rezeptoren haben wir nur für das, was sich bereits manifestiert hat. Was immer wir wahrnehmen, ist durch das „Nadelöhr der Gegenwart“ bereits hindurch und damit geworden. Gedanken beispielsweise können wir deshalb genauso wenig ungedacht machen wie ein zersprungenes Glas unzersprungen. Demzufolge können wir im Grunde auch gar nicht wirklich „präsent“ sein, wie der US-amerikanische Psychiater Daniel Siegel sagt. Denn Präsenz – englisch presence – setzt sich zusammen aus der Vorsilbe pre- bzw. prä- und „sense“ für „Sinn“ bzw. „Sensation“. Echte Präsenz erfordert damit eigentlich, der Wahrnehmung voraus zu sein. Das ist uns aber eben nicht möglich. Wir können uns dessen dennoch bewusst sein und unsere Wahrnehmung der wundersamen Metamorphose von Potenzial zu Realität sozusagen am Nadelöhr der Gegenwart erforschen. Auch das geschieht im Rahmen von Metazeption. Metazeption ist in meiner Systematik unser „9. Sinn“.

Soziozeption

„Soziozeption“ ist ebenfalls ein Begriff, den ich mir zu erfinden erlaubt habe und der sich auf die Wahrnehmung unserer Anbindung bezieht, unserer Anbindung sowohl an uns selbst wie auch an alles, was außer uns existiert und in irgendeiner Weise mit uns in Berührung ist, egal in welcher Form und auf welche Weise. In Sachen Soziozeption geht es nicht nur um die Wahrnehmung unserer Beziehungen, Verhältnisse und Verbindungen zu anderen Menschen. Den Begriff „Soziozeption“ erstrecke ich auch auf die Beziehungen, Verhältnisse und Verbindungen, die wir ganz allgemein oder individuell mit Tieren und Pflanzen haben, mit Wasser, Luft und Erde, den Gezeiten, Objekten, Land und Ozean, See und Insel, dem Himmel und den Ahnen, dem Großen Geist unter all seinen Namen, den Geistern, den Spirits. Meine Definition ist hier zugegebenermaßen sehr spirituell, deshalb gehe ich an dieser Stelle nicht näher darauf ein. Gestalten Sie gern selbst, wie weit und worauf Sie Ihre Soziozeption erstrecken möchten. Es wäre unser „10. Sinn“.

Memozeption

Den in meiner Systematik „11. Sinn“ habe ich „Memozeption“ genannt. Ich beschreibe damit die Wahrnehmung von Erinnerungen. In Sachen Memozeption stoßen wir an die Grenzen unserer Wahrnehmung, denn es gibt Erinnerungen, die wir nicht als Erinnerungen wahrnehmen können. Grundsätzlich werden 2 Arten von Erinnerungen unterschieden. Als explizit oder deklarativ werden Erinnerungen bezeichnet, die wir in Worte fassen können. Abgerufen werden sie aus dem Hippocampus bzw. den Hippocampi. Systemseitig hängt an expliziten Erinnerungen ein Schildchen mit der Aufschrift „ich bin eine Erinnerung“. Wir können bei expliziten Erinnerungen also erkennen, dass es sich jeweils um eine Erinnerung handelt. Bei impliziten Erinnerungen ist das anders.

Implizite oder nicht-deklarative Erinnerungen können zwar mit expliziten Erinnerungen verknüpft sein, es gibt sie aber auch vollkommen ohne diese Verknüpfung. Sie sind dann zum einen nicht in Worte zu fassen, weil sie als pure Sensationen daherkommen, als körperliche Reaktionen, Emotionen, Generalisierungen, unwillkürliche Muskelaktivitäten oder Priming, jenem psychologischen Effekt, der bewirkt, dass bestimmte Erfahrungen vordefinieren, wie man später auf einen bestimmten Reiz reagiert, ohne dass man das weiß oder merkt.

Implizite Erinnerungen werden in erster Linie aus den Basalganglien, dem Kleinhirn, der Amygdala und jenen Bereichen des Cortex abgerufen, die für Motorik und Emotionen zuständig sind. Sind implizite mit expliziten Erinnerungen verknüpft, ist auch der Hippocampus mit von der Partie. Nur dann partizipiert eine implizite Erinnerung am „ich bin eine Erinnerung“ Schildchen. Gibt es keine Verknüpfung einer impliziten mit einer expliziten Erinnerung, fehlt dieses Schildchen. Wir können diese Erinnerungen dann nicht als Erinnerungen wahrnehmen. Insoweit haben wir es mit etwas zu tun, das man „Inzeption“ nennen kann.

Inzeption

Die Idee von Inzeption hat einem Hollywood-Streifen zu seinem Titel verholfen: „Inception“ erzählt eine Geschichte, in der es den Helden nicht möglich ist, wahrzunehmen, dass sie sich in ineinandergeschachtelten Träumen befinden. Nur durch Ihre Bewusstheit dafür sind sie in der Lage, durch diese Träume zu navigieren. Die Vorsilbe „In-“ bewirkt, dass „-Zeption“, das Entern also, negiert wird. Inzeption bedeutet entsprechend „Nichtwahrnehmung“ bzw. „Wahrnehmung, die nicht stattfindet“. Wahrnehmung kann nicht stattfinden, wenn es keine Rezeptoren gibt, die das, was wahrgenommen werden könnte, ins System einlassen. Inzeption basiert damit auf einem Sinn, den wir nicht haben, einem Sinn, der nur durch seine Abwesenheit repräsentiert wird. Ich nenne ihn unseren „0. Sinn“.

Inzeption & implizite Erinnerungen

Ruft unser System implizite Erinnerungen wach, weil es in den 11 Millionen sekündlich hereinströmenden Sinneseindrücken etwas bemerkt, was es kennt und wovon es meint, dass wir es aufgrund seiner einstigen Bedeutung auch hier & jetzt berücksichtigen sollten, infiltrieren implizite Erinnerungen das Hier & Jetzt mit der Vergangenheit, ohne dass wir das merken oder verhindern könnten. Sind wir uns dessen nicht bewusst, verhalten wir uns unter Umständen hier & jetzt in der Vergangenheit bzw. bezogen auf eine Situation, die gegenwärtig gar nicht gegeben ist. Verhalten, das uns jetzt & hier in keinster Weise dient, kann die Folge sein.

Conscienzeption

Mit „Conscienzeption“ beschreibe ich in meiner Systematik die Wahrnehmung unseres Bewusstseins und unserer Bewusstheit. Für die Begriffsbildung habe ich das lateinische „conscientiam“ herangezogen. Es setzt sich aus der Vorsilbe „con-“ für „neben“, „bei“ oder „mit“ und „scientia“ für „Wissen“ oder „Kenntnis“ zusammen. Beim inneren Spurenlesen geht es im Bereich der Conscienzeption also um das Gewahren des eigenen Gewahrseins (nicht zu verwechseln mit Achtsamkeit). „Consienzeption“ ist entsprechend „mit Wissen um das Gewahrsein gewahr sein“ – unser „12. Sinn“.

Wahrnehmung verstehen: Wie liest man innere Spuren?

Im Zuge von innerem Spurenlesen erkunden Sie beim neurosensorischen Training Ihre Wahrnehmung unter Berücksichtigung aller Ihrer Sinne und erforschen dabei, auf welche Sinnesreize bzw. Sinneseindrücke Ihr System wie antwortet – mit welchen Reaktionen es aufwartet, welchen Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Ideen, Tendenzen, Bewegungen, Motivationen etc. Sie wenden sich dabei ganz bewusst sowohl Ihren Sinneseindrücken, als auch dem Prozess der Verarbeitung dieser Sinneseindrücke, als auch dem Ergebnis dieses Prozesses zu. Das tracken Sie. Ich verwende den Anglizismus „tracken“ gerne als Synonym für „Spurenlesen“, weil dem Wort „Spurenlesen“ etwas Verspieltes und Vergnügliches anhaftet. Dem Begriff fehlt der Ernstbezug. Möglicherweise weil Lesen auch eine Freizeitbeschäftigung ist und gerne zum Zwecke der Unterhaltung & Zerstreuung ausgeübt wird. Tracken ist das genaue Gegenteil davon: Wer trackt, meint etwas ernst: Er findet (und sucht nicht), und er hat den Weg als das Ziel erkannt, sprichwörtlich. Deshalb „unterhält“ und „zerstreut“ er sich auch nicht, schon gar nicht, weil er sonst nichts Besseres zu tun hätte oder sich entspannen müsste.

Da unser System mit der Verarbeitung bestimmter Reize und insbesondere aufgrund von verborgenem Trauma überfordert werden kann, führe ich Sie im Rahmen von neurosensorischem Training sehr behutsam an inneres Spurenlesen heran. Mehr erfahren Sie unter neurosensorisches Training und in meinem Blog.

 

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