Sind Beziehung und Verbindung zwei Dinge, die gar nicht funktionieren können?

Teil 1 dieses Beitrages finden Sie unter Be:ziehung – was ist das eigentlich?

Teil 2:
Was ist Ver:bindung?

Ver:bindung ist im Grunde nichts als eine Art zweites Gegenteil von Bindung – die Art Bindung, die zwar eine Bindung ist, die zugleich aber in irgendeiner Weise ver-kehrt ist. Genau das beschreibt das Wort Verbindung: eine Ver-Bindung. Die Vorsilbe „ver“ weist darauf hin, dass Verbindung aus dem gleichen Lager kommt wie ver-laufen, ver-lieben oder ver-fahren. Ihnen fallen bestimmt noch weitere Vers ein.

Bin ich ver-bunden, bin ich sozusagen falsch verbunden (wer das Wort „verbunden“ richtig liest, liest in „falsch verbunden“ eine Doppelung). Wenn ich mir das beliebte Wort „Naturverbindung“ unter dem Verbindungs-Aspekt anschaue, stelle ich für mich fest, dass es eine Naturverbindung gar nicht geben kann – denn wir können mit der Natur nicht verbunden sein. Weil wir an sie gebunden und in sie eingebunden sind. Wären wir verbunden, würden wir vielleicht gar nicht überleben. Vielleicht überleben wir deshalb auch Verbindungen zu anderen Menschen (und/oder Tieren, Gemeinschaften etc.) nicht, sodass wir die Ver:bindung früher oder später auflösen (müssen) – um nicht tatsächlich daran zugrunde gehen, insbesondere, wenn die Ver:bindung innerhalb einer Be:ziehung besteht.

Berührung genügt – und ist alles

In Berührung sein ist eine Formulierung, die ich selbst sehr mag. In Berührung sein integriert die Fähigkeit und Bereitschaft, berührt zu werden und sich berühren zu lassen. Das geschieht auf kognitiver Ebene ebenso wie auf emotionaler und somatischer Ebene, was in der Essenz auf die Einheit von Seele, Körper und Geist hinausläuft. Der Geist beherrscht den Körper nicht, er sorgt für ihn. Das allein befähigt den Körper, die Seele zu heilen, die sich ihrerseits allein darum kümmert, dass der Geist alle Tassen im Schrank behält und alle Latten am Zaun. 

Vielleicht mögen Sie einen Augenblick innehalten, darüber nachdenken und hinfühlen, wie das ist, wenn etwas Sie berührt oder wenn Sie von etwas berührt sind. Von einer Geschichte, einem Schicksal, einem Bild, einer Musik, einem Blick, einer (taktilen) Berührung, einer Begebenheit. Wenn Sie sich darauf einlassen, schauen Sie auch, ob Sie sich auch schon einmal von sich selbst haben berühren lassen. Von etwas, das Sie gesagt oder getan oder erlebt haben. Wenn Ihnen das gelungen ist, wenn Sie das zulassen konnten, wissen Sie, worauf Selbstempathie beruht. Viele Menschen bringen Empathie dennoch nur für die anderen 6.999.999.999 Menschen auf diesem Planeten auf.

Verwechseln Sie Selbstempathie aber nicht mit Selbstmitleid. Und verwechseln Sie Selbstempathie auch nicht mit Selbstwertschätzung. Diese drei Dinge sind nur durch das Selbst „verwandt“ miteinander. Unabhängig davon beschreiben sie gänzlich verschiedene Dinge.

In Berührung sein – welche Rolle spielt das Nervensystem?

In Berührung zu sein setzt voraus, dass die Beteiligten in Kontakt kommen. Unser Nervensystem ist jenes Organ, das uns diesen Kontakt ermöglicht. Interessant an dem Wort „Kontakt“ ist, dass es sich aus den Silben „Kon“ und „Takt“ zusammensetzt, wobei „Kon“ germanischen Ursprungs ist und auf Deutsch „neben, bei, mit“ bedeutet. Kon-Takt beschreibt also, dass sich ein Eines neben, bei oder mit einem anderen im Takt befindet, mit ihm schwingt = in Resonanz ist. Unser Nervensystem ist damit unser „Kontakt-“ oder „Resonanz-Organ“, das dafür sorgt, dass wir infolge von Berührung „zu schwingen“ beginnen. Schwingen wir, kommt in uns etwas in Fluss, seien es Gefühle, Ideen, Gedanken, Bewegungen oder was sich sonst „anstoßen“ lässt.

„Schwingung“ muss man aushalten können, denn nicht alles, was in uns in Fluss gerät, fühlt sich angenehm an. Viele Menschen haben deshalb – ohne sich dessen bewusst zu sein – verborgene, automatisierte Strategien entwickelt, um das In-Fluss-Kommen zu verhindern. Sie unterdrücken insbesondere ihr Fühlen. Was sie nicht ahnen:

  1. Man kann nicht „selektiv“ fühlen (man kann sich also nicht aussuchen, dass man nur angenehme Dinge fühlt, unangenehme aber nicht) – man fühlt oder fühlt nicht – und
  2. man unterdrückt Gefühle nicht nur mit dem Verstand, sondern auch und vor allem aus den Notfallprogrammen des autonomen Nervensystems heraus. Da das autonome Nervensystem nicht mit dem Willen beeinflusst werden kann, können wir nicht verhindern, unseren Notfallprogrammen reichlich ausgeliefert zu sein. Die „Notfallprogramme“ bestehen in den berühmten Fight/Flight/Freeze/Faint-Reaktionen, von der den meisten Menschen landläufig die Kampf-oder-Flucht-Geschichte bekannt ist. 

Verbindung ade: Be:ziehung als Flucht vor Berührung

Verfügt unser Nervensystem nicht über die Fähigkeit und Kapazität, wirklich zu verarbeiten, was in uns in Fluss kommt, wenn wir von etwas berührt werden, reagieren wir bewusst und unbewusst, willentlich und unwillentlich mehr oder weniger in unseren Notfallprogrammen – und schotten uns (oft schon vorsorglich) von Berührung ab. Manche Menschen flüchten sich dann sogar in eine Be:ziehung, weil es einfacher und paradoxerweise weniger schmerzhaft sein kann, sich mit Projektionen zu beschäftigen und sich so von dem abzulenken, was wirklich weh tut, wenn es in Fluss gerät. Solche Be:ziehungen können zutiefst unglücklich sein – aber immer noch „besser“ (sprich: erträglicher) als echtes in-Kontakt-sein. Entsprechend werden solche Be:ziehungen bisweilen aufrecht erhalten und nicht verlassen – auch nicht mit dem jeweiligen Partner. „Partner“ einer Be:ziehung kann jeder sein, mit dem irgendwie näher zu tun hat – Ehepartner, Freunde, Bekannte und Verwandte, Kollegen, Kinder, Haustiere. Und ja, man kann eine Be:ziehung verlassen, ohne den Partner zu wechseln – man verlässt die Be:ziehung sukzessive, je mehr man mit dem Partner in Berührung kommt. 

Raus aus der Ver-Bindung

Teil unseres Nervensystems sind unsere Sinnesorgane, die gleichsam als Kontakt-Stellen ins Außen fungieren. An diese Kontaktstellen kann das Außen andocken, um Zugang zu unserem Inneren zu erhalten. Das führt dazu, dass alles, was wir im Außen wahrnehmen (visuell, auditiv, taktil, geschmacklich, geruchlich), in uns stattfindet, dadurch, dass es in uns etwas auslöst. Je nach dem, wie wir damit umgehen, nehmen wir diesen oder jenen Einfluss auf unser Leben (das tut kein anderer). Zugleich nehmen wir ein ums andere Mal Einfluss auf die Schaltkreise und Datenautobahnen innerhalb unseres Nervensystems. Fangen wir an, uns uns selbst zuzuwenden, statt „an der Be:ziehung zu arbeiten“, gerät eine Be:ziehung zwar in eine Krise. Wenn sie aber nicht zerbricht, mündet sie früher oder später in genau das, was Sie sich beziehungstechnisch immer gewünscht haben. Weil Sie die Be:ziehung nicht mehr brauchen und sie loslassen können. Ohne etwas zu verlieren und zugleich nur zu gewinnen.

Berührung ist aus Zuwendung gemacht, nicht aus Arbeit und Verbindung

Ich habe absichtlich geschrieben „wenn Sie sich sich selbst zuwenden“ und nicht „wenn Sie an sich arbeiten“. Der Grund dafür ist, dass Sie Zuwendung brauchen, nicht Arbeit. Solange wir Kinder sind, kann uns das Maß an Zuwendung, das wir brauchen, tatsächlich von einem empathischen, fürsorglichen Umfeld gegeben werden. Sind wir erwachsen, geht das nicht mehr. Das für jeden ganz individuell erforderliche Maß an Zuwendung können wir uns als Erwachsene nur selbst geben – auch wenn unser Umfeld uns bis zu einem gewissen Grad unterstützen kann. 

Berührung und das Orchester des Mitseins

Je mehr wir in Berührung kommen – mit uns selbst, den Menschen, die uns am Herzen liegen, mit Tieren, Pflanzen, vielleicht sogar „Übersinnlichem“ – desto mehr verlassen wir alle unsere Ver:bindungen und gehen ins Mitsein. Das Schöne am Mitsein ist, dass wir bewusst und willentlich unser jeweiliges Gegenüber sein lassen können. Wir versprechen uns nichts mehr von ihm. Wir bitten es vielleicht um dieses oder jenes, aber wir erwarten und verlangen nicht, dass es leistet und dass das, was es leistet, unseren Ansprüchen und Erwartungen genügt, unsere Wünsche erfüllt. Wir machen von der Leistung eines Gegenübers nichts (mehr) abhängig. Vor allem nicht das Bild, das wir uns von uns selbst und auch vom jeweiligen Gegenüber machen.

Wir benutzen das Gegenüber nicht mehr und sind doch so fähig wie nie zuvor, anzunehmen. Weil wir begreifen, dass das, was ein Gegenüber in der Zuwendung zu sich selbst tut, es zugleich für alle anderen tut, die mit ihm in Berührung sind. Daher kommt der Spruch „Was Du in Dir heilst, heilst Du in der Welt“. Je mehr uns berühren darf – weil wir das aushalten und damit umgehen können – desto mehr findet in uns statt. Desto mehr kann in uns ins Fließen kommen. Und desto mehr „schwingt“ in uns. Desto größer ist auch das Orchester, das uns umgibt und uns die Sinfonie unseres Lebens spielt. Wir komponieren diese Sinfonie ganz allein und nur für uns selbst. Aus unserem Sein und Mitsein. Der Notenschlüssel dazu ist nichts Geringeres als

Berührung.

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